Diskussion


Siehe auch die Diskussion auf der Seite epetitionen.bundestag.de


30. April 2016 

Helmut Herbst: Behalten oder vernichten?

"Als Ergebnis einer Expertendiskussion, die auch den internationalen Fachdiskurs einbezieht, kommt Memoriav zu dem Schluss, dass die analogen Originale – also jene Trägermaterialien, die als Ausgangspunkt der Digitalisierung dienten – mindestens so lange aufzubewahren sind, wie ihre Lesbarkeit gewährleistet ist. Das Dokument stellt zudem vier Bedingungen auf, die alle gleichzeitig erfüllt sein müssen, sollte von diesem Grundsatz abgewichen werden.
Das Positionspapier von Memoriav steht somit in scharfer Opposition zur Kassationspraxis des Bundesarchiv-Filmarchivs. Andererseits stützt es die strikte Ablehnung u.a. durch den Kinematheksverbund des Vorschlags der PwC-Gutachter, nach der Digitalisierung 'aus Kostengründen [...] nur eine sehr selektive analoge Archivierung' vorzunehmen."

So kommentierte "Filmerbe in Gefahr" am 24. 4. 2016 das Gutachten des Vereins Memoriav.
Auf den ersten Blick scheint das wirklich eine gute Nachricht und eine willkommene Unterstützung für unsere Positionen zu sein. Aber man könnte aus dem Gutachten des Memoriav-Vereins auch ein trojanisches Pferd machen, indem man einfach bekanntgibt, dass die genannten 5 einschränkenden Bedingungen erfüllt seien. Sie lauten:


  1. Die digitale Archivierung erfüllt die Anforderungen von
    OAI S (ISO 14721:2012), so dass Authentizität und Integrität
    gewährleistet sind (inkl. Dokumentation Archivierungsprozesse
    etc.).
  2. Die Beschreibung der Originale mit technischen Metadaten
    und Dokumentation, wenn möglich mit Fotografie (Integrität) ist garantiert.
  3. Die Digitalisate sind bezüglich Qualität, Vollständigkeit
    und Abspielbarkeit überprüft. Technische Begleitdokumente
    der Digitalisierung liegen systematisch auswertbar vor.
  4. Die beispielhafte Aufbewahrung von «Museumsobjekten» ist sichergestellt.
  5. Bei Transfers muss garantiert sein, dass sie unter Erhalt der ursprünglichen Parameter erfolgten.

Die Erfüllung dieser Kriterien dürfte, wenn z. B. LTO-Systeme zum Einsatz kommen, nicht einmal besonders schwierig sein. Auch die komplizierten bürokratischen Abläufe, wie sie OASIS (iSO 14721:2012) u. a. für das Data-Management vorschreibt, sind für ein hoch bürokratisiertes System wie das Bundesarchiv kein allzu großes Hindernis. Und „die beispielhafte Aufbewahrung von «Museumsobjekten»“ d.h. von Filmen wie „Caligari“ und „Metropolis“ ist, wie allgemein bekannt, sichergestellt. Es wäre also keine große Überraschung, wenn das Bundesarchiv/Film demnächst die Erfüllung dieser Kriterien anzeigt und gleichzeitig seine Digitalisierungskampagne startet.
Betriebswirtschaftlich gesehen würden sich auf der „ethischen“ Grundlage des Memoriav-Gutachtens und der „organisatorischen“ des PwC-Gutachtens alle akuten technischen und organisatorischen Probleme des Bundesarchivs auf einen Schlag lösen lassen. Nachdem demnächst mehr oder weniger „alles“ in 4 K digitalisiert wäre, könnte man das analoge Ausgangsmaterial bis auf einen musealen Kernbestand „entsorgen“ und dann - auf einem Bruchteil der bisher benötigten Fläche - ein garantiert gasfreies, modernes digitales Archiv betreiben.
Die Pläne für die 4 K- Digitalisierungsoffensive sind im Bundesarchiv offenbar bereits weit gediehen. Die entscheidende Frage, die jetzt unbedingt beatwortet werden muss, lautet: Ist es kulturpolitisch vertretbar, die marktwirtschaftliche Funktionalität einer Behörde über den Auftrag zu stellen, für den sie geschaffen wurde? Der lautet, unser analoges Filmerbe zu sammeln und unter optimalen Lagerbedingungen zu lagern, zu pflegen und zugänglich zu machen? Hollywood-Studios, Filmwissenschaftler, Museen und ausländische Archive bestehen immer noch darauf, dass - solange kein archivfester digitaler Datenträger zu Verfügung steht – die optimale Lagerung und Pflege der analogen Bestände oberste Priorität haben muss.

Interessanterweise trifft das Memoriav-Gutachten keine Aussage darüber, ob nun grundsätzlich alles (!) digitalisiert werden soll oder nur eine durch „Priorisierung“ gewonnene Auswahl, wie sie der Kinematheksverbund fordert. Wie aber wäre dann mit dem großen analogen Restbestand zu verfahren, der in keiner Priorisierungsliste auftaucht? - Feuerbestattung?
Auf Seite 8 des Memoriav-Gutachtens findet sich der Hinweis auf eine Arbeitsgruppe um Brecht Declercq (FIAT/IFTA und Vlaams Instituut voor Archivering), die sich ebenfalls mit der Frage „behalten oder vernichten?“ auseinandersetzte. 2015 schrieb Declercq in der AMIA-Liste (Association of Moving Image Archivists) "we're planning to build some kind of decision tree, at the end of which in some very specific cases you might end up with the permission to delete the original carriers." Danach wäre eine Vernichtung nur in Sonderfällen zulässig.
Der Berliner Regierende Bürgermeister Müller fordert eine „zügige Digitalisierung der Defa-Filme.“ Da steht ja auch schon alles, in Reih und Glied durchnummeriert, in Bereitschaft. Aber was geschieht z.B. mit dem nicht priorisierten vielformatigen Zeug aus dem Westen, einem bunter Haufen von Filmen unangepasster selbsternannter „Filmmacher“, renitent und mit dubiosen Urheberrechten?

Ich bin überzeugt, dass es weder die Angelegenheit der Politik noch der Archivarinnen und Archivare allein sein kann, darüber zu entscheiden, was von unserem Filmerbe behalten und was vernichtet wird. Wie auf der Internetseite kinematheken.info dargelegt, benötigen die Filmwissenschaften und die interessierte Öffentlichkeit einen offenen digitalen Zugang zum gesamten Filmerbe-Bestand - im Sinne des von der UNESCO geforderten OPEN ACCESS zu mit öffentlichen Mitteln produziertem Wissen. Den kann nur ein visualisierter Gesamtkatalog des Filmerbes gewährleisten. Mit der Hilfe einer neuen Generation von Filmscannern könnte er - zu vertretbaren Kosten auf HD- Niveau - innerhalb nur weniger Jahre erstellt werden. Nur ein offener digitaler Zugang wird es erlauben, die prioritäre, längst überfällige Sichtung und Klassifizierung des deutschen Filmerbe-Bestandes (auch für Master- Digitalisierungen und Restaurierungen) auf mehrere Arbeitsgruppen von Fachleuten zu verteilen, die auf bestimmte Epochen und Genres spezialisiert sind.

Birkert, 28.4.2016
Helmut Herbst
Memoriav: Antwort auf diesen Beitrag von Helmut Herbst

30. Juli 2015 

Sprengstoffrechtliche Vorschriften

In der Freitag Nr. 31 vom 30. Juli 2015 prangert der Historiker und Dokumentarfilmer Dirk Alt die Kassationspraxis des Bundesarchiv-Filmarchivs an. Von 140.000 Rollen Nitrofilm, die seit der Wiedervereinigung im Filmarchiv lagerten, würden heute nur noch knapp 70.000 existieren. Wochenschauen und Dokumentarfilme würden besonders häufig kassiert. Auch Sicherheitsfilme würden kassiert, „vor allem als überflüssig erachtete Doubletten.“

Gegenüber Kritikern berufe sich das Bundesarchiv auf sprengstoffrechtliche Vorschriften, die die Entsorgung des Nitrofilms verlangten, insbesondere die Dienstanweisung 6.4. Hinter der gegenwärtigen Kassationspraxis sieht Alt auch den „Finanzdruck, der durch das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) an das materiell und personell längst ausgedünnte Bundesarchiv weitergegeben wird.“

Alt kritisiert die fehlende fachliche Qualifikation der Archivmitarbeiter: „Hinzu kommt, dass nicht jedes überlieferte Filmmaterial tatsächlich umkopiert wird – das liegt letztlich im Ermessen von Entscheidungsträgern, die fachlich nicht qualifiziert sind, gleichermaßen die zeithistorische, technikgeschichtliche und filmkünstlerische Bedeutung eines Materials zu beurteilen. Vor diesem Hintergrund sind die Mitarbeiter des Bundesarchivs, die ihrerseits nicht alle von der Richtigkeit der Filmvernichtung überzeugt sind, kaum zu beneiden.“

Alt betont, dass nur die Ausgangsmaterialien Dokumentenwert haben, also „die filmischen Artefakte des analogen Zeitalters: Ihr erinnerungspolitischer Wert kann kaum hoch genug veranschlagt werden.“

Alt fordert daher die Politik auf, „der Vernichtung dieser Dokumente Einhalt zu gebieten.“


Zum Artikel im Freitag

20. Februar 2015 

A tale of mass digitization and access from the Netherlands

Referat von Tom De Smet (Head of Collections at the Netherlands Institute for Sound and Vision) auf der Konferenz "Zugang gestalten! Mehr Verantwortung für das kulturelle Erbe" am 13./14. November 2014 in Berlin
Zum Redebeitrag

30. November 2014 

Unhappy Medium: The Challenges With Archiving Digital Video

Im Washingtonian vom 10. September 2014 schreibt Vicky Gan über die digitale Herausforderung für die Filmarchive: "For these institutions dedicated to preserving millions of miles of footage for posterity, the end of film signals a wrenching technical, cultural, and budgetary shift."

19. November 2014 

Vorsicht bei der Digitalisierungsoffensive

Anke Wilkening, Restauratorin der Murnau-Stiftung, weist in GRIP 51 darauf hin, dass nur der Erhalt des Originalmaterials die künftige Verfügbarkeit des Filmerbes gewährleistet: „Historische Farbverfahren wie Agfacolor sind durch moderne Farbemulsionen nur ungenügend wiedergegeben. Der Sprache und den Tönen ist durch den Einsatz von starken Rauschfiltern nicht nur die Atmo abhanden gekommen, ganze Silben und Buchstaben sind weggefiltert und machen die Dialoge unverständlich. Es sind erhebliche inhaltliche Verluste beim Bild durch zu harte Kontraste und mitkopierte Beschädigungen der Filmoberfläche entstanden. Unzulänglichkeiten, die nicht mehr gutzumachen sind, wenn die Originale vorschriftsgemäß zerstört worden sind. [...] „Der Kongress tanzt“ (1931), eines der emblematischsten Beispiele der frühen deutschen Tonfilmoperette, wurde im falschen Bildseitenverhältnis umkopiert, so dass die Köpfe der Darsteller erheblich beschnitten sind."

28. Oktober 2014 

Wider die METROPOLISierung des Filmerbes

Chris Wahl zum 10. UNESCO-Tag des Audiovisuelles Erbes:
"Auf der einen Seite müssen Filmarchivare, -historiker und Cinephile wohl damit leben, dass auch in naher Zukunft nicht alle audiovisuellen Materialien erhalten werden können – nicht einmal all die, die es vielleicht wert wären. Was aber andererseits fehlt, ist der politische Wille, die tatsächliche Situation des Filmerbes anzuerkennen und entsprechende Strategien zu entwickeln. Um die Politik zu überzeugen braucht man mehr als eine Handvoll entschlossener Archivare, es muss wenn nicht öffentlichen Druck, so doch einen breiten Konsens über die Notwendigkeit der Filmarchivierung geben."

Helmut Herbst22. April 2014 

Einer ganz anderen Perspektive eine Chance geben

Deine Replik, lieber Martin Koerber, ist eine aus der Sicht des besorgten Archivars notwendige Ergänzung und Korrektur meines Diskussionspapiers und, was die personelle und finanzielle Not der Archive betrifft, sicher auch als brandaktueller Alarmruf zu interpretieren. In zwei Punkten jedoch melde ich heftigen Widerspruch an:

1. Richard Wright’s Thesen zum Kostenvergleich zwischen analoger und digitaler Archivierung stellen eine eher polemische Außenseitermeinung dar. Ich stütze mich lieber auf die Berechnungen des Science and Technology Council of the Academy of Motion Picture Arts and Sciences. Dass sich die Speicherkapazität und damit der Preis der Hardware zueinander umgekehrt proportional entwickeln, ist z.B. in dem LTO- Konzept bereits enthalten. Auch die enormen Stromkosten werden sich durch wachsende Energieeffizienz verringern lassen, nicht jedoch die Kosten für das die ständige Migration der Daten überwachende Fachpersonal. Selbst wenn dann eines Tages die sogenannten „Jahrhundertkosten“ der digitalen Archivierung nur noch das Achtfache anstelle des 2007 von der Academy veranschlagten Zwölffachen der analogen Archivierung von Polyesterfilm betragen sollten, wird sich eine Ausbelichtung digitaler Dateien auf Filmmaterial und dessen Archivierung immer noch lohnen.

2. Ich kann gut verstehen, dass die Archive an der bisherigen Praxis der „Digitalisierung on Demand“ festhalten wollen, lassen sich doch so die spärlichen Zuschüsse aus Bundesmitteln mit zuweilen großzügige Projekt-Förderungen aus Drittmitteln, wie z.B. der Bertelsmann-Stiftung, zu einigen vorzeigbaren Einzelprojekten bündeln. Aber geben wir doch einer ganz anderen Perspektive, der kulturpolitischen Innenschau, auch einmal eine Chance!

Die Staatsministerin für Kultur und Medien könnte natürlich wie bisher die Unterstützung einzelner Archive „on Demand“ fortsetzen und die finanziellen Mittel zur Aufstockung des Personals und für einzelne Projekte etwas erhöhen. Das läge auf einer bereits erprobten kulturpolitischen Linie und brächte immerhin eine leichte Verbesserung der Situation, würde jedoch die Lösung der drängenden Probleme nur weiter in die Zukunft verschieben.

Frau Grütters könnte aber auch ihren Namen mit einer weiter ausholenden reformatorischen Initiative zur Bewahrung des Filmerbes verknüpfen und bei deren Umsetzung die dann erheblich aufgestockten Fördermittel nicht mehr „on Demand“ sondern zentral vergeben und mit Auflagen verbinden: Denn (s. mein Papier ) „nur das systematische Aufarbeiten und Kategorisieren der Bestände, ihre radikale Neubewertung als ‚Work in Progress’ kann den Zugang zum gesamten Filmerbe auf Dauer offen halten, den Blick auf das Originalmaterial und dessen Erhaltung fokussieren, minderwertige analoge Kopien und Sicherungspakete in die hinteren Regale verbannen und für alle beteiligten Institutionen einen klar strukturierten Arbeitsablauf konstituieren. Die zentrale Forderung beinhaltet daher: Das Filmerbe in der Form eines dem der Deutschen Nationalbibliothek vergleichbaren Bestandskataloges zu dokumentieren und es gleichzeitig durch Digitalisierungen auf bezahlbarem technischen Niveau sichtbar und zugänglich zu machen. Beides kann nur in einem Arbeitsgang und in enger Kooperation als gemeinsame prioritäre Aufgabe aller deutschen Archive gemeistert werden. . . In der ersten arbeitsintensiven Phase des langwierigen Prozesses der Katalogisierung und Visualisierung des Filmerbes sollte sich die Sicherung auf jene Filme beschränken, die sich als ‚akut gefährdet’ herausstellen und daher not-digitalisiert werden müssen.“ (22.4.2014)

Martin Koerber19. April 2014 

"Archive ohne Archivare sind ein Witz“

Martin Koerber, Leiter Filmarchiv Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen, antwortet Helmut Herbst

Besten Dank, Helmut Herbst, für die Geisterbilder – ich sehe mit Freude, dass die Gedanken aus dem letzten Herbst nun eine weiter entwickelte Form annehmen, die durchdachter wirkt als der ursprüngliche Alarmruf. Der Anfang des Artikels befremdet mich etwas, da die Archivare ja durchaus nicht ratlos vor der Materie stehen, sondern sich kümmern. Sie kommen mit ihrer Expertise und Bemühung immer dort an Grenzen, wo die Finanzierung für ihre Tätigkeit einfach nicht gegeben ist. Die Ursache dafür ist mangelnder politischer Wille im Großen, nicht Versagen von Einzelnen oder einzelner kinemathekarischer Einrichtungen.

Daher gibt es in Deutschland bisher keine gemeinsame Katalogisierung wie in Frankreich, daher rühren auch immer wieder Mängel in der Lagerhaltung, es fehlt auch am Kontakt zur Filmwirtschaft und einer nachhaltigen Übernahme der Materialien noch während der (schließlich überwiegend mit öffentlichem Geld erzeugten) aktuellen Produktion – das muss ja alles jemand machen, und wir haben eben in allen Archiven viel zu wenig Leute. Archive ohne Archivare sind ein Witz, aber diesen Spaß leistet sich das Land und der Rest der Welt lacht über uns. Hierzulande wird das Lachen über das Fehlen einer „Filmerbe-Politik“ nicht einmal bemerkt, für Filmarchivierung in professioneller Weise fehlt ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein und daher der politische Konsens auf ganzer Linie.

Das Modell für den Bestandskatalog bauen wir derzeit; Deutsche Kinemathek und Deutsches Filminstitut werden das im Frühjahr 2015 vorlegen, wenn nicht auch dafür die Finanzierung abstürzt. Das Bundesarchiv hat signalisiert, eine Schnittstelle zu seinen Katalogen zu ermöglichen. Dann hätte man schon viel geschafft und die Katalogdaten von drei wichtigen Playern zusammen geschüttet. Man darf sich aber keinen Illusionen über die Sinnhaftigkeit eines solchen Gesamtkatalogs hingeben, dem sich dann nach und nach auch weitere Partner und Gäste des Kinematheksverbunds anschließen könnten: Die Arbeit ginge dann erst richtig los. Was nützt mir die Auskunft, dass der Film „Asphalt“ (1929) fünf bis 17mal vorhanden ist, wenn ich keine Archivare habe, die nach diesem Katalogbefund die Materialien auch bewerten und vergleichen können und unter technischen wie filmphilologischen Gesichtspunkte verantwortungsvoll entscheiden, welche der Materialien die beste Variante für eine Langzeitlagerung und was die beste Digitalisierungsvorlage oder Vorführkopie wäre. Man könnte unendlich viel Schrottmaterial aus den Archiven entfernen und Platz schaffen, wenn man sich damit mal beschäftigt, und auch die ständige Neu-Kopierung („Sicherung“) von ungeeignetem Material unterbinden.

Anekdote: Diese Woche wurde mir zufällig der Plan bekannt, den Film „Der Fall von Troia“ zu sichern, basiert auf einer viragierten Nitrokopie, die sich wundersamerweise seit 1911 erhalten hat. Hier liegt also eine deutsche Verleihvariante des Films „La caduta di Troia“ vor, ein Meilenstein der italienischen Filmgeschichte, vor einigen Jahren in Bologna bereits bestens restauriert. Mein Hinweis auf diese Tatsache hat den Kopierauftrag gestoppt, aber solche Dinge geschehen nicht nur einmal im Jahr, sondern sind unvermeidlich systematisch, wenn wir unsere Arbeit aus Mangel an Kenntnis und geeigneten Arbeitsmitteln nicht stärker koordinieren auch international stärker verknüpfen können.

Wie schaffen wir einen Anschluss der in „Geisterbilder“ formulierten Bedürfnisse an die politische Landschaft? Was nötig wäre und was zur Verfügung steht klafft in einer derart krassen Art und Weise auseinander, dass ich nicht wüsste wie man das bewerkstelligen soll. Die bisherige „Digitalisierungsoffensive“ umfasst eine Million €, eine weitere steht bei der Filmförderungsanstalt (FFA) zur Verfügung. Ausgereicht wird das in minimalen Portionen, die nicht dazu führen, das nach den Regeln der Kunst gearbeitet werden kann sondern billige Access-Digitalisate gemacht werden müssen, das sagt nur keiner. Auch diese beiden Millionen sind bisher nicht im Bundeshaushalt verankert. Dem gegenüber steht nun – man könnte wirklich sagen als „Geisterbild“ – eine Forderung von ein bis zwei Milliarden in 24 Jahren. Man kann sich ja ausrechnen, was das dann im Jahr kostet. Woher soll das in Zeiten der Schuldenbremse kommen, wenn selbst die Kulturleistungen unseres Landes, die bisher Konsens waren, wie z.B. Sinfonieorchester oder Stadttheater, reihenweise abgewickelt werden?

Und soll man wirklich glauben, die Beschäftigung mit Filmerbe sei nach 24 Jahren erledigt? Ich denke, das bleibt eine Daueraufgabe wie die Aufrechterhaltung von Bibliotheken und anderen Wissensinstitutionen, warum auch nicht. Lieber stetig etwas weniger Geld, aber dafür zuverlässig, als wieder einmal ein „Projekt“, das jederzeit gecancelt werden kann. Das schmähliche Ende von „Images for the Future“ in den Niederlanden ist da ein warnendes Beispiel.

Die Zahlen der Academy, die den geisterhaften Berechnungen zugrunde liegen sind übrigens Humbug, denke ich.

Hinweise auf andere Berechnungsgrundlagen hier:

Richard Wright schreibt dazu an anderer Stelle:

„What to include in a cost model is the basic issue. The Academy model for century costs ("12 times cheaper than digital") comes completely unstuck if one adds in any access costs -- not to mention that their model of digital costs ("take 2005 costs and multiply by 100") is a blatant misrepresentation. I note that "The Digital Dilemma" is now available in Japanese, Portuguese and Korean. I welcome the wide-spread reading of this work, because there is (imho) a wealth of detail on cinema-industry requirements and digital storage technology (albeit from 2005-6). The only serious flaw is the century cost model, and the false conclusion about "12 times cheaper than digital". If only they would issue a revision!“

Die Berechnungen der Academy gehen von falschen Annahmen aus. Hierzu hat Wright schon vor einigen Jahren im Rahmen des Presto-Projekts einiges geschrieben. Die Berechnungen finden sich im Report von 2010, D7.1.4, Kapitel 5.2 ab Seite 32.

So provisorisch und problematisch solche Berechnungen immer sein mögen, die Behauptung, analoge Sicherung sei zwölfmal billiger als digitale Sicherung lässt sich zweifellos schon heute überhaupt nicht mehr aufrecht erhalten. Das Gegenteil ist richtig, man kann sich nur noch darüber streiten, wie hoch die Kostenunterschiede sind. Richtig ist allerdings, das eine digitale Sicherung nur bei aktiver Arbeit an den Beständen denkbar ist – einfach Material ins Regal legen und vergessen wird nicht gehen. (Bei Film geht es übrigens auch nicht, ohne Klimatisierung und Zustandskontrolle, die auch Geld kostet und in allen Berechnungsmodellen fehlt, wird es mit der prognostizierten Lebensdauer nichts.)

Noch etwas zur Polemik gegen die Sicherung der Filme der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR. Ich verstehe die Kritik daran nicht – wenn sich ein Projektzusammenhang ergibt, der solche ephemeren Filme zu sichern erlaubt, die sonst niemals drankämen, warum soll man das nicht machen? Da gibt es noch riesige Bestände anderer Dinge zu erwähnen, allein in meiner Hochschule liegen tausende Bildungsmedien der DDR herum, darunter mindestens 4.000 Filme, und manche davon sehr interessant. Gelegentlich gelingt es, Teile davon zu retten, hier ein Beispiel.

Ebenfalls polemisch wird gegen „Digitalisierung on demand“ gesprochen. Warum? Sollen wir denn "Digitalisierung ohne Demand" aber lieber „systematisch“ machen, etwa zunächst alle Filme, die mit A anfangen und dann im Jahr 2250 bei denen mit Z ankommen? Die 150 allbekannten Klassiker sind ohnehin nicht vom Aussterben bedroht, da mache ich mir keine Sorgen. Sehr wohl bedroht ist alles andere, und gerade in dem Anderen steckt die Vielfalt der Archive und das Potenzial für kuratierte Abenteuer im audiovisuellen Erbe.

Die Anfragen, die wir im Archiv alltäglich bedienen richten sich immer deutlicher auf Filme, die außerhalb des Kanons stehen. Diese Anfragen zugunsten der erneuten Abarbeitung des Kanons zurück zu stellen hielte ich für absolut fatal.

Allein die Deutsche Kinemathek hat im Jahr 2013 durch Reaktion auf Kundenanfragen (und auf Kosten dieser Kunden, anders wäre es mangels eigener Mittel ja nicht möglich gewesen) sowie im Rahmen von thematisch bezogenen Drittmittelprojekten 80 Stunden Material digitalisiert, das in keiner Filmgeschichte vorkommt. Darunter sind Filme von Riki Kalbe, Stuart Sherman, Hellmuth Costard, Victor von Plessen, Michael Brynntrup, Manfred Durniok, Gerhard Lamprecht und vielen anderen, darunter sehr viele Namenlose, gerade bei dokumentarischem Material der Frühzeit sind uns die Autoren nicht einmal bekannt. Ein Hoch also dem Demand, der soviel Unbekanntes aus dem analogen schwarzen Loch ins helle Licht der digitalen Projektoren hebt! Das kann nur immer besser werden, wenn wir in die Lage versetzt werden, unsere Bestände besser zu erfassen, und die Kataloge zu publizieren – das steht ja nach und nach immerhin bevor. Wie wir allerdings die Explosion der Anfragen, die dann zu erwarten sind, bewältigen ohne dass wir auch nur ein Gehirn mit zwei Händen mehr einstellen dürfen, bleibt die Frage.

Helmut Herbst8. April 2014 

Geisterbilder

Über den Zugang zum Filmerbe, seine Sicherung und Lagerung

Unsere Film-Archivarinnen und -Archivare stehen zunehmend verunsichert vor ihrem Archivgut, den bewegten Bildern. Es stellt sich die Frage, was das eigentlich für ein Medium ist, das nicht aufhören will, immer neue technische und ästhetische Facetten zu offenbaren und immer neue Trägermaterialien zu beanspruchen.

Sein erster famoser Auftritt liegt so weit zurück wie die französische Revolution und machte bezeichnenderweise unter dem Label „Geisterbilder“ Furore. Die wurden von Robertsons Laterna Magica in Paris auf Rauchwolken projiziert. Zunächst schüchtern und sporadisch verließen damals die bewegten Bilder als „Geisterbilder“ die Wände der sakralen und bürgerlichen Architektur, ebenso wie das Papier, die Leinwand, den Marmor und die Museen. Seitdem haben sie sich wie ansteckende Viren das jeweils technisch modernste Medium ihrer Zeit als Wirt ausgesucht und dabei stets an Macht und Fülle gewonnen.

Nachdem die bewegten Bilder jetzt dabei sind, nach den Glasplatten der Laterna Magica, nach dem Zelluloid-Stummfilm auch das Azetat-Kino und die analogen Videoformate als sterbliche Hüllen hinter sich zu lassen und stattdessen die digitale Welt zu erobern, ist es an der Zeit, für ihre Archivierung und Sicherung eine neue Strategie und Begrifflichkeit zu testen. Technisch reproduzierbar sind alle Kunstwerke, aber nur die bewegten Bilder unter ihnen existieren ausschließlich in der technischen Reproduktion und als Projektion, das ist ihr Wesen.

Archive definieren grundsätzlich ihre Deposita nach Physik und Chemie ihrer unterschiedlichen Trägermaterialien, ohne beim bewegten Bild von dieser bewährten Praxis abzuweichen. Aber wenn es die Überlebens- und Fortpflanzungs-Strategie der bewegten Bilder ist, jeweils das zur Zeit potenteste technische Vervielfältigungsmedium zu befallen und für sich zu reklamieren, bedeutete dann Archivieren nicht, die unterschiedlichen historischen Trägermaterialien lediglich als sterbliche Hüllen zu betrachten und zur Speicherung immer das modernste auszuwählen? Das könnte vielleicht statt der mit Magnetband-Laufwerken (z. B. „LTO’s") und Festplatten bestückten digitalen Archive eines Tages ein Netzwerk von kleinen Kristallen und schließlich auch ein Zusammenschluss menschlicher Gehirne sein; denn die „Geisterbilder“ befinden sich auf dem Weg zur Allgegenwärtigkeit.

Doch dieser Strategie der lebenden Bilder bedingungslos zu folgen, wie es die aktuelle Filmproduktion tut, hieße, die verderblichen historischen Bildträger sich selbst zu überlassen. Um unser Filmerbe in allen Erscheinungsformen möglichst verlustfrei zu sichern, müssen wir einen anderen Weg finden.

Wenn das bewegte Bild sein Medium wechselt und dabei die alte analoge Hülle abstreift, um eine neue digitale zu beziehen, geschieht das nicht verlustfrei. War es doch mit seinen Wirten, den frühen Kunststoffen Nitrozellulose (Zelluloid) und Zellulose-Tri-Azetat, sowie den damit verbundenen analogen Aufnahme- und Verfahrenstechniken für einen Zeitraum von etwa hundert Jahren eine symbiotische Beziehung eingegangen, in der technische Möglichkeiten und ästhetische Innovationen sich bedingten und so Bestandteil des Bildinhalts wurden.

Auch wer lediglich für die Filmerzählung, den narrativen Inhalt, aufgeschlossen ist, wird den Unterschied beim Übergang von einem Medium in das andere bemerken. Er wird das organische Pulsieren der analogen Bildprojektion und ihre zitternde Unruhe vermissen - das Erbe der flüchtigen „Geisterbilder“. Jeder analoge Film trägt darüber hinaus die technischen Umstände seiner Entstehung mit sich. Die Bedingungen des Aufnahmematerials und der Filmtechnik schufen zusammen mit den Entscheidungen der Regisseure, der Kameramänner, Cutter, Lichtbestimmer etc. den Film-Stil.

So dominiert in „Spanish Earth“ ein eindrucksvoller „lapidarer“ Schnittrhythmus, entstanden einerseits als Produkt der Unfähigkeit von Joris Ivens‘ Bell&Howell-Federwerk-Kamera, Szenen über eine Länge von 15 bis 20 Sekunden hinaus zu filmen, und andererseits als Produkt der Fähigkeit des Regisseurs und Kameramanns Joris Ivens, daraus ein bewusstes Stilmittel zu machen. Die meisten dieser technisch/ästhetischen Entstehungsmerkmale lassen sich auch noch in der digitalen Kopie eines analogen Films lesen. Jene Informationen aber, die in der Projektion unsichtbar bleiben und das Trägermaterial, die Bildschicht, ihre Verarbeitung und den Zustand des Filmstreifens betreffen, gehen verloren.

Die Verlustliste umfasst nicht nur die im Material selbst enthaltenen chemischen und technischen Informationen. Verloren gehen auch Beschriftungen an Schnittstellen, am äußersten Rand oder zwischen der Perforation, die Form und Präzision der Perforationslöcher, die Auskunft zur Datierung geben können, aber auch die jedem Filmmaterial eigene Material-Ästhetik, wie sie in letzter Zeit immer häufiger durch den Abdruck einzelner Filmschnipsel in Fachzeitschriften dokumentiert wird.
Alle analogen Kopiervorgänge, auch die auf speziellem Duplikatfilm, bringen Verluste mit sich. Prinzipiell verlustfrei ist nur die digitale Vervielfältigung von digitalem Ausgangsmaterial.

Innerhalb des gut hundert Jahre lang einwandfrei funktionierenden analogen Film- Modells, das während seiner Lebensdauer lediglich technisch ausdifferenziert wurde, gab es die höchsten Verluste beim Umkopieren von einem Materialtyp auf den nachfolgenden und von einem Bildformat in ein anderes. In den zehner Jahren des 20. Jahrhunderts z. B. liebte man bei Filmnegativen eine kräftige Durchzeichnung und eine steile Gradation, die in den Kopien die lästigen Negativ-Schrammen unterdrückten und bei der Projektion der Nitrozellulose-Kopien ein leuchtendes Weiß und, mit einer schmalen Grau-Skala dazwischen, ein tiefes samtenes Schwarz erzeugten. Diese Kopien eigneten sich auch hervorragend für eine intensive Einfärbung im Tauchbad (Tinten, Tonen, Virage). Ihre typische Anmutung ging indes beim Umkopieren der erhalten gebliebenen Filmkopien auf modernen Farbfilm verloren, da die modernen Emulsionen nicht in der Lage waren, die Intensität der Einfärbungen und den strahlenden Kontrast der Original-Kopien auf ihrem glasklaren Nitrozellulose-Trägermaterial korrekt wiederzugeben. Dabei waren es diese Farbkopien aus den achtziger Jahren, die zum ersten Mal einen Eindruck von der originalen Ästhetik der Filme aus den Zehner Jahren vermittelten, deren einzigartige Anmutung sich aber ironischerweise erst wieder in der digitalen Projektion digitaler Kopien entfalten kann.

Um die kostbaren 35mm- Kopien seiner Sammlung deutscher Stummfilme zu schonen und dennoch für alle Interessierten den Zugang zu seinen Schätzen offen zu halten, ließ der Berliner Regisseur Gerhard Lamprecht schon in den dreißiger Jahren von einem bedeutenden Teil seiner Sammlung schwarzweiße Verkleinerungskopien im 16mm- „Amateur“-Schmalfilm-Format herstellen. Unglücklicherweise verbrannten die meisten seiner 35mm-Unikate an ihrem als „sicher“ eingeschätzten Auslagerungsort, während die qualitativ minderwertigen 16mm-Ansichtskopien erhalten blieben und nach dem Krieg den Grundstock der „Stiftung Deutsche Kinemathek“ bildeten.

So kam es, dass sich in den Köpfen einer ganzen filminteressierten Generation mit dem deutschen Stummfilm die Vorstellung eines leicht unscharfen und farblosen Universums in Grau verband. Erst nach und nach konnten farbige, meist ausländische Kopien dieses Vorurteil korrigieren. In den fünfziger Jahren lockte die Cinémathèque Française als cinéastischer Wallfahrtsort dagegen mit der Projektion der originalen Kopien. Henri Langlois projizierte dort seine Sammlung, darunter die deutschen Stummfilmklassiker, „ohne Rücksicht auf Verluste“, wie man heute kritisch anmerken muss, schuf aber so die filmhistorische Basis für das französische Autorenkino der „Nouvelle Vague“ und für eine europäische, an der projizierten Originalkopie geschulte Filmwissenschaft.

So zeigt sich das Dilemma zwischen den Fragen „Wie mache ich das historische Material zugänglich?“ und „Wie sichere ich die kostbaren Originale zuverlässig für die kommenden Jahrhunderte?“ bereits in den Anfängen der Filmarchivierung. Die strenge Trennung zwischen Zugang und Sicherung, wie sie sich in Gerhard Lamprechts Archivpraxis andeutet und heute in allen Film-Archiven für den Umgang mit dem historischen Filmmaterial Standard ist, zeigt auch für die anstehende Digitalisierung der Bestände den einzigen vernünftigen Ausweg aus diesem Dilemma. Um das Geld der Steuerzahler und Sponsoren sinnvoll einzusetzen, gilt es, ihn konsequent zu verfolgen. „Sinnvoll“, das heißt, wie Archivarinnen und Archivare zu denken: Nicht in Legislaturperioden, sondern in Jahrhunderten.


Zugang und Sicherung sind unterschiedliche Aufgabenbereiche, die unterschiedliche Lösungen verlangen.


1. Zugang

Die in der Petition filmerbe-in-gefahr enthaltene Forderung, das Filmerbe zügig zu digitalisieren, zielt zunächst auf das Sichtbarmachen und systematische Erfassen der verstreuten Bestände durch ihre Digitalisierung und ihre Kategorisierung in einem gleichzeitig zu erstellenden zentralen Bestandskatalog. Um einen breiten Zugang zum Film-Erbe zu schaffen, schlagen wir vor, diese Digitalisierung aus Kostengründen unterhalb der qualitativ hochwertigen 4K- und 2K-Kino-Norm in HD durchzuführen, die relativ kleinen Dateien auf Blue-Ray-Discs zu speichern und sie als Ansichtskopien in den digitalen Bibliotheken der Archive und, so weit es die Rechtslage zulässt, mit Signet und Kopierschutz versehen, auch im Internet allen Interessierten zugänglich zu machen.

Die aufwändigere und kostenintensivere systematische Sicherung des Filmerbes, bei der digitale und analoge Verfahren zusammenwirken, ist ein davon unabhängiger Arbeitsprozess, der aber betriebswirtschaftlich nur sinnvoll ist, wenn alle daran Beteiligten die Bestände und deren Kategorisierungen auch kennen. Die von Archiven und Stiftungen vorgeschlagene "Digitalisierung on Demand", die Zugang und Sicherung in einem Junktim verknüpft, wird dagegen den aktuellen Missstand nur fortschreiben und verschärfen. Nach diesem Geschäftsmodell werden neben Dokumentarmaterial für TV-Verschnitte gerne bekannte Filmklassiker wie „Metropolis“ und „Caligari“ auf der Grundlage nicht kategorisierter Ausgangsmaterialien mehrfach digitalisiert, ohne dass diese Entscheidungen generell vor einem Gremium aus Fachleuten verantwortet werden müssen. Die Folge ist: Was keine Lobby hat, verschwindet. Ein signifikantes Beispiel für den Erfolg von Lobby-Arbeit ist übrigens die „Digitalisierung on Demand“ von 1.500 Filmen der Nationalen Volksarmee, die uns nun als kulturelles Erbe zur Verfügung stehen.

Nur das systematische Aufarbeiten und Kategorisieren der Bestände, ihre radikale Neubewertung als „Work in Progress“ kann den Zugang zum gesamten Filmerbe auf Dauer offen halten, den Blick auf das Originalmaterial und dessen Erhaltung fokussieren, minderwertige analoge Kopien und Sicherungspakete in die hinteren Regale verbannen und für alle beteiligten Institutionen einen klar strukturierten Arbeitsablauf konstituieren. Unsere zentrale Forderung beinhaltet daher: Erstens die Dokumentation des Filmerbes in der Form eines dem der Deutschen Nationalbibliothek vergleichbaren Bestandskataloges und zweitens seine Visualisierung durch eine Digitalisierung auf bezahlbarem technischen Niveau. Beides kann nur in einem Arbeitsgang und in enger Kooperation als gemeinsame prioritäre Aufgabe aller deutschen Archive gemeistert werden.


2. Sicherung

Zur Sicherung sollten - so lange dafür noch Knowhow, Technik und Filmmaterial zur Verfügung stehen - so viele relativ preiswerte analoge Duplikat-Kopien auf Polyesterfilm gezogen werden wie möglich. Dazu werden die noch existierenden Film-Bearbeitungs-Betriebe mit herangezogen. (In Frankreich fordert das „Centre National du Cinéma“ ( CNC) von allen Rechteinhabern, die einen Zuschuss zum Digitalisieren erhalten, für Archivzwecke die Hinterlegung einer analogen Kopie auf Polyesterfilm.)

In unseren Archiven lagern aber auch vom chemischen Zerfall akut bedrohte Filme, die dringend restauriert und mit einer 2k/4K- Digitalisierung gerettet werden müssen. Wenn wir archivalisch sinnvoll „nicht für Legislaturperioden sondern für Jahrhunderte“ sichern, werden von diesen digitalen Dateien zur Langzeit-Sicherung (für mindestens 500 Jahre) wiederum analoge SW-Kopien auf Polyesterfilm gezogen. Farbiges Ausgangsmaterial sollte dabei in der Form von je 3 SW-Farbauszügen (RGB) + 1 Tonnegativ archiviert werden. Von diesem analogen Langzeit-Archivmaterial lassen sich zur Auswertung „on Demand“ auch in einer sehr fernen Zukunft noch Filme in den dann aktuellen Datenformaten redigitalisieren.

Diese Art der Archivierung wird in den USA von den Filmarchiven der Majors bereits seit über dreißig Jahren praktiziert. Sie ist, so lange es noch keine archivfesten digitalen Speicher gibt, die zur Zeit einzige Möglichkeit, das Filmerbe ohne Furcht vor Stromausfall, elektromagnetischer Strahlung, Hackern, obsoleter Codierung oder fehlendem Personal langfristig zu sichern.

Wir dürfen die notwendigen Entscheidungen zur Digitalisierung akut gefährdeter Filme nicht weiter hinauszögern. Dabei handelt es sich vor allem auch um Tri-Azetat-Filme aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, die bereits mit Vorschäden im Bundesarchiv eingelagert wurden und deren chemischer Zerfall dort infolge nicht korrekter Lagerbedingungen weiter fortgeschritten ist.

In der ersten arbeitsintensiven Phase des langwierigen Prozesses der Visualisierung und Katalogisiserung des Filmerbes sollte sich die Sicherung auf jene Filme beschränken, die sich als „akut gefährdet“ herausstellen und daher not-digitalisiert werden müssen.


3. Lagerung

Alle archivfesten Film-Kopien auf Polyester-Basis werden ohne Ausnahme zur Langzeitsicherung im Bundesarchiv/Film eingelagert, während die Archivierung der digitalen Filmoriginale und -Kopien in die Obhut von Firmen übergeht, die auf Datenspeicherung spezialisiert sind. Archivalisch wäre es sinnvoll, diese Datensätze in dreifacher Ausfertigung auf verschiedene Rechenzentren zu verteilen. Das Bundesarchiv/Film bewahrt eine komplette, voll funktionsfähige, analoge Film-Bearbeitungs-Technik mit Kopierwerk, Scannern, Laser-Ausbelichtern etc. und hält sie instand. Digital hergestellte Filme, bei denen Wert auf eine Langzeitsicherung gelegt wird, können, bis archivfeste digitale Speichermedien zur Verfügung stehen, ebenfalls in der Form von schwarzweißen Farbauszügen im Bundesarchiv/Film hinterlegt werden.

Die internationalen Standards für die Lagerung von historischem Filmmaterial gelten in allen deutschen Filmarchiven. Dort müssen die Vorschriften, die die Klimabedingungen in den Film-Bunkern regeln, unbedingt befolgt werden - wie auch die ethische Konvention der FIAF, die ihren Mitgliedern das Vernichten von Nitro-Filmen verbietet, solange diese noch lagerfähig sind.

Juliane Lorenz8. Dezember 2013 
Präsidentin der Rainer Fassbinder Foundation

An die Initiatoren der Aktion »Filmerbe in Gefahr«

Zur letzten Fassung der Petition, die sehr sehr gut ist in unserem Kernanliegen, darf ich vielleicht erneut darauf hinweisen, dass gescannte und digitalisierte historische Filme im Grunde immer noch auf Negative ausbelichtet werden müssten, wenn sie aufwendig digital restauriert wurden. Denn nur so kann ein Filmerbe wirklich überleben. Länger als immer wieder neu überspielte Daten, deren Lebensdauer ja inzwischen auch angezweifelt wird. Vor allem auch durch den rapider werdenden Datenwandel der Zukunft. In der Praxis ist es ja heute schon so, dass Daten von vor 10 Jahren von neuen Betriebssystemen zum großen Teil nicht mehr gelesen werden können. Das heisst konkret: Gute Restaurierungen mit hart erarbeiteten neuen digitalen Lichtbestimmungswerten müssten nach 10 Jahren wieder neu erarbeitet werden, weil vorherige Datenkopierungen von neuen Maschinen und neuen Daten-Programmen nicht mehr gelesen werden können.

Nur ein Beispiel: Wir haben 2001/2002 alle unsere Fassbinder-Titel auf SD umfassend restauriert. Unsere DVDs (damals waren HD-Digitalisierungen noch unerschwinglich) wurden allerorten in der Welt sehr gerühmt. Kosten für 24 Titel (zwischen ca. 80 und 135 Minuten Länge pro Titel) waren damals ca. 450 Tsd. Euro. Nun sind wir bei der 2k und 4k angelangt (nach den Vorlagen der FFA und deren „Filmerbe Content Programm“ ist das eine Bedingung). Heute kosten die 8 Filme ca. 350 Tsd. Euro.

Und weiter: Trotz der FFA-Unterstützung seit 2013 ist dieser Zuschuss nur ein kleiner Teil der anfallenden Gesamtkosten, denn der Rechteinhaber muss – neben dem 25% Eigenanteil, den er nachweisen muss – erst einmal alles voraus bezahlen. Nur dann bekommt er die Förderung von bis zu 15 Tsd Euro ausbezahlt. Das ist schon jetzt ein Dilemma und eine Unmöglichkeit für einen Filmproduzenten, der noch Rechte zu verwerten hat, wenn er eine gute Qualität und eine Langzeitsicherung anstrebt. Hinzu kommt: Nur wenige Kinematheken verfügen überhaupt über Rechte oder die Voraussetzungen für hochwertige Restaurierungen. Hier müssen ja auch die Möglichkeiten der Verwertungsarten noch berücksichtigt werden.

Meine Erfahrung mit den Filmen von Rainer Werner Fassbinder ist eine ziemlich traurige: Filme deutschen Ursprungs (ob Klassiker aus den Anfängen des Kinos oder die jüngeren des Neuen Deutschen Films bis hin zu den neuen Filmen) werden in Deutschland von Anstalten des öffentlichen Rechts kaum noch lizenziert werden. Selbst wenn ein Produzent oder Kinematheken einen „Weltnamen“ als Produkt besitzen, können diese Filme die Kosten (und möglicherweise immer wieder neue Ausgaben für erneute Digitalisierungen) kaum erwirtschaften. Und mit Sicherheit nicht überleben – auch nicht mit Hilfe der neuesten Technologie.

Die Petition hat viele Probleme zum ersten Mal in treffenden Worten erfasst und die momentane Situation in Deutschland zum Thema Filmerbe präzis beschrieben und sichtbarer gemacht. Aber wir müssen noch viel lauter schreien, bis die Öffentlichkeit und die Verantwortlichen in der Politik wirklich das gesamte Ausmaß des filmischen „Gedächtnisverlustes“ zu begreifen beginnen.

Berlin, 8. Dezember 2013

Helmut Herbst11. November 2013 

Wer hat Angst vorm Vinegar-Syndrome?

«Wenn die Politik den chemischen Zerfall unseres filmischen Erbes weiter ignoriert, müssen wir in den kommenden Jahren mit dem Verlust der meisten Filme rechnen. Um den abzuwenden, werden bis zum Ende dieses Jahrzehnts Investitionen von einer halben Milliarde Euro benötigt.»
Lesen: Film & TV Kameramann online

Sein Alarmruf bildete die Grundlage für die Petition, die Helmut Herbst sowie der Publizist und Medienwissenschaftler Klaus Kreimeier und der Filmhistoriker Jeanpaul Goergen an die Teilnehmer der Arbeitsgruppe „Kultur und Medien“ bei den Koalitionsverhandlungen im November 2013 richteten.


© 2011-2024  filmerbe-in-gefahr.de | Impressum/Datenschutz | Zum Seitenanfang